Der Sinn der Sinnlichkeit

Aspekte von Sexualität in frühneuzeitlichen Quellen des Rheinlandes

 

Von Thomas P. Becker

 

Versteht man unter "Sinnlichkeit" ein erotisierendes Verhalten, das die sexuelle Vereinigung zweier Geschlechtspartner intendiert, so ist der Sinn dieses Verhaltens seit ca. 4,5 Millionen Jahren klar: Es geht um die Fortpflanzung der Gattung, die durch die Empfänglichkeit für erotische Signale sichergestellt werden soll. Hätte sich die Natur diese kleine Zugabe zum Vermehrungsgeschehen nicht einfallen lassen, wäre es wahrscheinlich nie zur Entwicklung der Menschheit gekommen, denn die Männchen unserer Spezies neigen nun einmal dazu, die ihnen auferlegten biologischen Pflichten über angeblich wichtigeren Dingen zu vergessen. Doch natürlich soll hier von dieser anthropologischen Sicht menschlicher Sexualität nicht die Rede sein. Wenn wir also nach der Motivation für sexuelle Kontakte fragen, dann geht es nicht um die Frage der Fortpflanzung. Es geht auch nicht um das Motiv der individuell erlebten Lust als Ergebnis eines solchen Kontaktes. Sowohl das eine als auch das andere sind anthropologische Konstanten, die zum Leben des Menschen dazugehören, egal, in welcher Zeit wir uns befinden.

Wenn wir uns mit der Sozialgeschichte des Rheinlandes in der Frühen Neuzeit beschäftigen, dann fragen wir nicht nach dem Sinn, den zwei Menschen für sich allein ihrem Geschlechtsakt beigemessen haben, wir wollen vielmehr erfahren, ob es da noch Dritte gibt, die mit der Kopulation dieser beiden Menschen einen bestimmten Zweck verfolgen, der gar nicht unmittelbar mit sexueller Lust zu tun haben muß. Gegenstand der Untersuchung ist dabei die Sexualität der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung. Diese Einschränkung ist wichtig, denn es ist davon auszugehen, dass – abgesehen vom ehelichen Geschlechtsverkehr, der den Normen von Kirche und weltlicher Obrigkeit entsprach – die Bedingungen, unter denen sexuelle Akte vorgenommen werden konnten, im ländlichen Milieu anders waren als in der Großstadt Köln oder in den fürstlichen Residenzen von Düsseldorf oder Bonn. Es mag dabei durchaus sein, daß die Bandbreite sexueller Handlungen im städtischen Bereich dem in ländlichen Gebieten in nichts nachstand, aber die Rituale und Bräuche, um die es im Folgenden bisweilen gehen wird, waren anders, und das, was ich als „Sinn der Sinnlichkeit“ in meinem Vortragstitel bezeichnet habe und im weiteren noch ausführen möchte, läßt sich in der Stadt so nicht finden, wie ich es auf dem Lande konstatieren konnte.

Zunächst einmal müssen wir uns allerdings vergewissern, daß die "Sexualität", über die wir hier reden wollen, mit dem übereinstimmt, was wir in unserer Zeit und Gesellschaft darunter verstehen. "‘Sexualität‘" so hat es der Saarbrücker Historiker Richard van Dülmen ausgedrückt, "tritt immer, so weit wir auch zurückgehen, als eine von Menschen geformte Sexualität, als ein kulturelles Phänomen auf, das ebenso wie andere Handlungen einem Wandel unterliegt."

 

1. Wie wurde Sexualität empfunden?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hören wir uns eine kleine Geschichte aus dem Siegburg des frühen 17. Jahrhunderts an. Sie hat einen düsteren Hintergrund, denn der Erzähler, ein Mann namens Wilhelm Kremer, kämpft in ihr um sein Leben. Er ist wegen Hexerei im Gefängnis und will dem Hexenkommissar erklären, warum das auffällige Mal, das er trägt, nicht von einem Teufelspakt stammt sondern von einer anderen, weniger furchtbaren Sünde:

Was an diesem Beispiel aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auffällt, ist – neben der mittelalterlich anmutenden Unbekümmertheit, mit der Familienmitglieder und Gäste ein gemeinsames Bett teilen – die geschäftsmäßige Atmosphäre, in der hier der Handel um das Gut Geschlechtsverkehr abgewickelt wird. Nichts in dem Quellenkontext der Prozeßunterlagen des Wilhelm Kremer läßt darauf schließen, daß seine Halbschwester eine gewerbliche Prostituiere war. Ich bin vielmehr überzeugt, daß hier zwei erwachsene Menschen ein Geschäft auf Gegenseitigkeit abgeschlossen haben, das den Charakter einer Gefälligkeit trägt: "Ich mache Dir eine Freude, wenn Du mir auch eine machst.". Das Beispiel belegt eine in der Literatur oft wiederholte Meinung, daß vor allem in den ländlich geprägten Gebieten in der Frühen Neuzeit eine relativ derbe und nüchterne Haltung zur Sexualität vorherrschte. Erotik und Zärtlichkeit, gar Raffinesse oder sinnliche Verspieltheit werden – von der höfischen Kultur einmal abgesehen – eher einer späteren Epoche zugebilligt.

Wir sollten das aber nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern danach suchen, ob wir Quellenaussagen finden, die uns etwas über die sexuelle Praxis erzählen können. Waren die rheinischen Bauern und Kleinstädter der Frühen Neuzeit tatsächlich fern von jedem Gespür für Erotik?

Auch hier möchte ich Ihnen eine Quelle aus einem Hexenprozeß zu Gehör bringen, diesmal aus Bliesheim im Gebiet des heutigen Erftstadt. Ich hoffe, niemand wird es mir verübeln, wenn dieser Text sehr drastische erotische Beschreibungen enthält. Es handelt sich um die Selbstanzeige eines 12jährigen Jungen namens Jakob Küpper, der wegen Hexerei verhaftet werden will, weil er sexuellen Umgang mit einem weiblichen Teufel, einem Succubus, gehabt haben will:

Ob der Junge, der sich hier mit seiner Geschichte vor dem Schöffengericht wichtig gemacht hat, was ihm im Übrigen nur einige Tage geistlicher Exerzitien eingebracht hat, nun tatsächlich auf erste eigene sexuelle Erfahrungen rekurriert oder aber – was angesichts seines Alters noch wahrscheinlicher ist – lediglich das wiedergibt, was er Älteren abgelauscht hatte, das ist für uns hier nicht weiter von Belang. Viel wichtiger ist, daß wir hier eines der seltenen Zeugnisse aus der Kulturschicht der rheinischen Landbevölkerung vor uns haben, in dem sexuelle Handlungen und erotisch gemeinte Bezeichnungen männlicher und weiblicher Geschlechtsteile beim Namen genannt werden. „Schembden“ und „Memmen“ finden sich hier ebenso in der Originalsprache der Quelle wie „Dingen“ und „Dingelchen“. Anklänge eines erotischen Vorspiels durch die erotisierende Präsentation der Brüste und der Scham sowie das Streicheln von Brüsten und Penis zeigen an, daß unsere Vorstellung von der derben und nüchternen Art der bäuerlichen Sexualität nicht so ohne weiteres aufrecht erhalten werden kann. Wir werden nicht umhin kommen, den bäuerlichen Schichten früherer Jahrhunderte den gleichen Spielraum an Sinnlichkeit einzuräumen, der auch in unserer eigenen Kultur vorkommt.

Gleichwohl dürften dem Reichtum der sexuellen Phantasie bei der Ausübung des Geschlechtsaktes in der Frühen Neuzeit engere Grenzen gesetzt gewesen sein als das heute der Fall ist. Das liegt aber nicht an einer geringeren Ausprägung sinnlicher Bedürfnisse, sondern an den Lebensumständen, die darauf angelegt waren, den Einzelnen in der Gruppe aufgehen zu lassen. Wie wir beim ersten Beispiel gesehen haben, war selbst für die Privatheit des Nachtlagers in den meisten Haushalt kein Platz. Gäste werden einfach in das eigene Bett mit hinein genommen, weil es gar keinen anderen Ort gibt, wo sie schlafen könnten. Im für das Rheinland typischen einraumtiefen Haus, in dem alle Bewohner zusammen in einem Zimmer wohnten, gab es nur in den reicheren Bauernhäusern einen eigenen Verschlag, in dem das Ehepaar sein Bett haben konnte. Ehelicher Verkehr war da nur im Dunkeln und leise möglich, wenn man auf Zeugen verzichten wollte. Und daß die im ersten Beispiel von Wilhelm Kremer deutlich gewordene unkomplizierte Haltung zur Sexualität nicht gleichbedeutend ist mit einer geringeren Schamhaftigkeit, läßt sich ebenfalls an vielen Quellen ablesen. Der Rheinbacher Schöffe Hermann Löher, der vor der Hexenverfolgung nach Amsterdam geflohen war, entrüstet sich in seinem 1676 geschriebenen Buch über die Verfahrensweisen, bei Hexenprozessen den verhafteten Frauen sämtliche Haare, auch die genitale Schambehaarung, durch die Henkerskenchte entfernen zu lassen:

Trotz erheblicher Unterschiede in der Anbahnung von Geschlechtsverkehr stehen uns unsere Vorfahren also, wie ich mit diesen Beispielen zeigen wollte, in Hinsicht auf sinnliche Bedürfnisse, genauso aber auch in Hinsicht auf ihre Vorbehalte gegen schamloses Verhalten, weitaus näher, als mancher Sozialhistoriker anzunehmen bereit ist. Das "Hand anlegen", das Hermann Löher im gerade verlesenen Zitat erwähnt hat, ist ein weiterer jener seltenen Hinweise auf Formen taktiler Genitalstimulation, die über eine nur auf den Koitus beschränkte Sexualität hinausweisen.

 

2. Eheliche Sexualität und Geburtenkontrolle

Hermann Löhers Worte führen uns zudem zu einem weiteren Bereich heterosexueller Beziehungen, nämlich der ehelichen Sexualität. Dies ist der einzige von allen sozialen Kräften gemeinsam als legitim und „normal“ angesehene Bereich. Gerade daher können wir wegen der Dürftigkeit der Quellen nicht viele Aussagen machen. Allerdings können wir anhand ehelicher Sexualität wenigstens eine Frage näher beleuchten, die uns auch als Aspekt von Sexualität interessieren kann, den der Empfängnisverhütung nämlich. Hier fragen wir danach im Zusammenhang mit Geburtenplanung. Haben unsere rheinischen Vorfahren in der Frühen Neuzeit Geburtenplanung betrieben oder nicht? Standen ihnen Mittel und Techniken zur Empfängnisverhütung zur Verfügung und wurden sie angewandt?

Auch hier ist es nicht leicht, Informationen zu gewinnen, aber immerhin haben die Methoden der historischen Demographie mittlerweile wichtige Hilfsmittel an die Hand gegeben, um trotz des Fehlens expressiver Quellenaussagen zu Ergebnissen zu kommen.

Einen wichtigen Anhaltspunkt für das Vorhandensein von Geburtenplanung kann man nämlich durch die Intervalle gewinnen, die zwischen den Geburten in einer Ehe verstreichen. Französische Forschungen haben gezeigt, da0 sich eine aktive Geburtenkontrolle daran ablesen läßt, ob die Eltern sich bemühen, die ersten Kinder in ihrer Ehe möglichst schnell zu bekommen, die Geburten weiterer Kinder dann aber hinauszuzögern. In diesen französischen Vergleichswerten, die auch dort erst für die Zeit nach der Revolution feststellbar sind, wächst das Intervall zwischen den einzelnen Geburten durchschnittlich auf mehr als vier Jahre. In Genf, wo man nicht erst auf das Revolutionszeitalter wartete, lagen schon ab 1675 die Intervalle bei 20% der Familien bei 49 Monaten und mehr, bei weiteren 27% lag der Abstand zwischen 30 und 48 Monaten. Der Anteil von Familien, in denen die Intervalle wuchsen, stieg im 18. Jahrhundert kontinuierlich weiter an. Das bedeutet, daß hier in der Schweiz schon weit vor der Aufklärungszeit die „malthusianische Wende“ eingetreten ist. Es wäre interessant, das mit Untersuchungen in den Niederlanden oder in anderen calvinistisch geprägten Gebieten zu vergleichen, um zu sehen, ob hier die Konfession einen Beitrag zur Geburtenkontrolle geliefert hat.

Im Rheinland war das offensichtlich nicht so. In einer Untersuchung Dörfer Kessenich und Friesdorf in der Nähe von Bonn sowie Glehn (Stadt Korscheinbroich) und Eicks (Stadt Mechernich) tritt zutage, dass die Intervalle konstant bei weniger als drei Jahren liegen. Der gleiche Befund ergibt sich bei einer Korrelation von Heiratsalter und Kinderzahl. Bei einer berühmten Untersuchung der ehelichen Fruchtbarkeit im Pariser Becken im 18. und 19. Jahrhundert stellte Marcel Lachiver 1969 fest, dass vor der Revolution die graphische Darstellung dieser Korrelation eine von links oben (junges Heiratsalter, hohe Kinderzahl) nach rechts unten (hohes Heiratsalter, niedrige Kinderzahl) verlaufende gerade oder leicht konvexe Linie darstellte. Nach der Revolution wurde diese Linie konkav, was bedeutet, dass die Ehepaare sich bemühten, ihre Kinder gezielt so schnell wie möglich am Anfang der Ehe zu bekommen und dann die Geburt weiterer Kinder hinauszuzögern oder gar zu vermeiden. Wenn wir uns die Verteilung dieser Linie für das rheinische Dorf Kessenich ansehen, so entspricht sie exakt den Vorgaben von Lachiver für die Zeit vor der Revolution. Aus beidem folgt, daß es in den rheinischen Dörfern der Frühen Neuzeit im allgemeinen keine Geburtenplanung gegeben haben dürfte. Das schließt natürlich nicht aus, daß in der Kultur der einfachen Leute auf dem Land ein Wissen um Antikonzeptiva und Ab­ortiva vorhanden war. Es wurde jedoch nicht angewandt – zumindest innerhalb der Ehe nicht.

 

3. außereheliche Sexualität

Dieses Ergebnis leitet über zu der Frage nach der außerehelichen Sexualität. Hier, so kann man zumindest annehmen, hatte Empfängnisverhütung doch viel eher ihren Platz. Das gilt aber nicht für die außerehelichen Verbindungen im eigentlichen Sinn. Man muß nämlich unterscheiden zwischen vorehelichen Verhältnissen zweier unverheirateter Personen und solchen, die von Personen eingegangen wurden, von denen wenigstens eine schon verheiratet war. Solche ehebrecherischen Verhältnisse bargen in den meisten Fällen kein Risiko, es sei denn, der Ehemann hatte wegen seiner eigenen nachlassenden Potenz Grund zu der Annahme, eine Schwangerschaft seiner Frau nicht mehr mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Die außerehelichen Verbindungen, die zahlreich und sicher auch ein wesentlicher Bestandteil der sexuellen Kultur der Frühen Neuzeit gewesen sind, mußten allerdings erst einmal mit den Lebensverhältnissen zurechtkommen, die so gut wie keinen privaten Raum ließen.

Der Ausweg war zumeist ein Stelldichein im Wald, wo niemand sonst zugegen war. Auch davon erfahren wir z.B. in Siegburger Hexenprozeßakten. Eine Katharina Leyendeckers etwa bekennt, "daß ungefehr vor funfzehen oder sechszehen Jahren Metzges Peter mit ihro Bulschaft treiben wollen, welches sie ihme ein Zeitlang abgeschlagen, folgends doch im Lohmarwald im Erlenbusch den WiIlen mit ihro gehabt und gethan, und von ihm schwanger worden, davon ihr Sohn, so noch im Leben." Ähnlich war es bei Agnes Kremer. Sie bekennt, daß vor ungefehhr 8 Jahren mit einem Soldatten genant Ensgar, so selbig mahl im Wald gelegen, Ehebruch betrieben, und einmahl oder sechs mit obgedachtem Soldaten zu thun gehabt ..."

Die außerehelichen Beziehungen, die weder von der Ortsgemeinschaft noch von der Obrigkeit geduldet wurden, haben ihre Spuren besser in den Quellen hinterlassen als alle anderen sexuellen Beziehungen, da sie bei Entdeckung vor die Schranken des Gerichts führten. Für unsere Frage nach dem Umgang mit Sexualität führen sie aber nicht weiter, da die auf Liebe oder doch wenigsten auf Lust aufgebauten Verbindungen zwar viel Stoff für Romane und Erzählungen geben, sich aber ansonsten nicht von unserem heutigen Verhalten bei Ehebruch unterscheiden.

 

4. Voreheliche Sexualität

Wenden wir uns also der anderen Gruppe zu, den vorehelichen Geschlechtsbeziehungen. Hierunter sind außereheliche Verbindungen unter Ledigen zu verstehen. Gerade diese Gruppe, so unsere oben geäußerte Annahme, könnte ja diejenige sein, die von empfängnisverhütenden Mitteln Gebrauch machte. Allerdings gehen wir dabei schon davon aus, daß es in der Zeit der strengen Kirchenzucht und der stetig ausgeweiteten konfessionellen Kontrolle über alle Lebensvollzüge überhaupt eine größere Zahl von vorehelichen Verhältnissen gegeben habe. Auch hier können wir vielleicht Antwort über die Frage nach den Kindern erhalten. Sollte es gar keine Empfängnisverhütung gegeben haben, dann dürfte anzunehmen sein, daß die Rate der unehelich geborenen Kinder uns eine Aussage über die Häufigkeit von vorehelichem Geschlechtsverkehr liefert. Das Gegenteil könnte dann eine Aussage über die Akzeptanz kirchlicher Sexualmoral ergeben. Aber beide Annahmen erweisen sich bei näherem Hinsehen als falsch.

Zunächst zur Frage nach der Geburtenrate. Das Rheinland, so müssen wir feststellen, gehörte zu den Gebieten Europas mit der geringsten Rate an unehelichen Geburten. Andere Gebiete, etwa die österreichischen Alpenregionen, erreichten dagegen Zahlen von bis zu 60% unehelich geborener Kinder. Der Befund aus den Kirchenbüchern stimmt mit den Quellen der kirchlichen Rügegerichtsbarkeit überein. In Sendprotokollen und Visitationsberichten werden nur selten Frauen erwähnt, die ein uneheliches Kind zur Welt gebracht haben. Nach diesen Quellen war die Frage der unehelichen Geburten im Rheinland ein Schichtenproblem, denn ledige Mütter gab es in allererster Linie beim Gesinde. Der Umkehrschluß, außer den eventuell mit lockerer Moral behafteten Knechten und Mägden habe sich die dörfliche Jugend den kirchlichen Keuschheitslehren rasch angepaßt, ist aber falsch. Denn wenn auch nur wenige ledige Mütter in den Visitationsprotokollen erwähnt werden, so fehlen doch in keiner Visitationsreise die Ehepaare, die dafür gerügt werden, daß die Braut schon vor der Hochzeit schwanger war. In Visitationsberichten aus dem Ahrgau-Dekanat weisen im Jahre 1628 sieben von neunzehn visitierten Pfarrer (36,8%) auf derartige Fälle in ihren Gemeinden hin, im Jahre 1686 sind es immer noch acht von zweiunddreißig Pfarrern (25%).

Wenn allerdings ein Mädchen aus einer bessergestellten Familie unverheiratet schwanger wurde, ohne daß der Kindsvater gleich das Aufgebot bestellte, führte das oft zu einer Klage. Aus diesen Prozessen erfahren wir, daß die Mädchen nichts gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr einzuwenden hatten, aber erst dann, wenn der junge Mann ihr vorher ein Eheversprechen gab. Nur unter der Voraussetzung späterer Heirat waren Defloration und wiederholter Geschlechtsverkehr akzeptiert. Dies scheint, nach allem, was wir wissen, kein Einzelbefund gelegentlich erhaltener Prozeßakten zu sein, sondern stellt die generelle Haltung der ländlichen Bevölkerung in der Frühen Neuzeit dar. Die kirchlichen Moralvorstellungen nach dem Tridentinum, für die Sexualität ihren einzig legitimen Platz in der Ehe zur Zeugung von Nachkommen hatte, blieben bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ohne Wirkung. Allerdings sah die statt dessen vorhandene Moralvorstellung der Bauern zwar den vorehelichen Geschlechtsverkehr vor, aber keineswegs Promiskuität. Wer wann mit wem schlafen durfte, war keine Frage der Beliebigkeit einzelner Individuen, es war vielmehr einer strengen Regulierung unterworfen, für deren Durchsetzung die Junggesellen des Ortes Sorge trugen. Zuwiderhandlungen wurden durch verschiedene Maßnahmen der traditionellen Rügegerichtsbarkeit öffentlich angeprangert oder durch deren Androhung verhindert.

Wir sind damit an dem Punkt angelangt, an dem wir nach der Zweckdienlichmachung sinnlicher Lust fragen können, nach dem Sinn, den Dritte der sexuellen Verbindung eines Paares unterlegen. Wir finden ein solches Phänomen, wenn wir nicht auf den Geschlechtsakt allein schauen und nur die daran Beteiligten in den Quellen suchen. Viel mehr Aufschluß gewinnen wir, wenn wir das Gesamte der Partnerschaftsanbahnung in den Dörfern und kleinen Städten betrachten. Und hier haben wir in der Tat ein zentrales Ereignis, und zwar das Mailehen.

 

5. Das Schlutgehen

Noch heute ist es auf den Dörfern in der Kölner Bucht üblich, daß zum 1. Mai die Mädchen des Ortes meistbietend an die Mitglieder des Junggesellenvereins versteigert werden. Dieser Brauch, der seit dem 15. Jahrhundert nachweisbar ist, hat heute nur einen sehr eingeschränkt erotischen Charakter, und von sexueller Verbindung kann dank einer funktionierenden Sittenpolizei schon gar keine Rede sein. Das aber war früher anders. Zunächst einmal war das Mailehen, bei dem die Maipaare bestimmt wurden, die nun bis Pfingsten miteinander zu Tänzen und anderen Lustbarkeiten zu gehen hatten, keine Verlosung wie heute, sondern ein Ausrufen. Da bedeutet, daß diejenigen, die als die Führer der Dorfjugend die Organisation der Maibräuche übernahmen, auch entschieden, wer mit wem in der Frühlingszeit zusammenkommen sollte. Die heute noch geltenden Regeln von samstäglichem Tanz und sonntäglichem Besuch bei den Eltern des Mädchens dürften in etwa auch in der Frühen Neuzeit gegolten haben. Es gab aber etwas, was sich ganz gravierend von der heutigen Brauchform unterscheidet und uns wieder in unser Thema zurückführt: Das "Schlutgehen".

Dieses Schlutgehen ist in der Kölner Bucht und den angrenzenden Regionen das, was man in Oberbayern als "Fensterln" bezeichnet. Der Begriff "Schlut" leitet sich ab von dem dicken, aus Stroh gefertigten Helm, den sich die jungen Burschen aufsetzten, um beim Ersteigen der Leiter zum Fenster der Liebsten vor eventuellen Schlägen auf den Hinterkopf gefeit zu sein, falls der erboste Vater den Besuch mittels eines Stockes zu unterbinden suchte. Eine Verordnung des Kurfürsten Clemens August wandte sich scharf gegen die Burschen, die nachts ihr Lehn besuchten "und nach denen Sonn- und Feyrtagen heimlich auß ihren Häusern schleichen, und, umb ihren so genannten Lehen nachzugehen, an denen Fensteren, so gar über die Tächer in die Häuser hinein zu steigen sich freventlich unterstehen thuen, also daß inner bemelten Nächten ein junger Purst selten zu Hauß in seinem Beth anzutreffen...". Dies stellte die dritte von insgesamt fünf Verordnungen dar, die Clemens August und sein Nachfolger Max Friedrich gegen den "Schluitgang oder Leimloch-Besuch" im Verlauf des 18. Jahrhunderts erlassen haben – jedes Mal ohne Erfolg. Die genannte Verordnung drohte für das erste Mal, wo ein junger Bursche beim Fensterln erwischt wurde, mit einer Strafe von 3 Goldgulden, beim zweiten Mal schon mit sechs Goldgulden, beim dritten Mal gar mit einer Woche Festungshaft. Genutzt hat es nichts. Das Schlutgehen hielt sich entgegen allen staatlichen und kirchlichen Maßnahmen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Die jungen Männer, die ins Stockhaus in Kaiserswerth kamen, mußten zum Zeichen ihrer Schande den ganzen Tag über die Schlut auflassen. Das scheint sie aber eher noch angespornt zu haben.

Natürlich wissen wir nicht wirklich, was die jungen Burschen und Mädchen in der Heimlichkeit der Mainächte getrieben haben. Aber anders als in den schon besser erforschten Spinnstuben-Geselligkeiten, bei denen die jungen Leute ihre sexuellen Aktivitäten auf gelegentliches Petting beschränkten, dürfen wir vermuten, daß die nächtlichen Besuche ohne jede Einschränkung dem Vollzug des Geschlechtsaktes dienten. Kam es dabei zur Schwangerschaft, so wurde die Maibraut bald darauf zur richtigen Braut und das Verhältnis legalisiert.

Diese Annahme zieht jedoch einiges an Folgerungen nach sich. Erstens werden wir davon ausgehen dürfen, daß die jungen Mädchen sich in den Nächten des Schlutgehens nur dann zum Verkehr bereitfanden, wenn sie davon ausgehen konnten, daß der junge Mann bereit war, sie im Falle einer Schwangerschaft auch zu heiraten. Außerdem können wir feststellen, daß es nur relativ wenige Konfliktfälle gab, in denen ein Mädchen von einem jungen Mann schwanger wurde, der von seinem familiären Hintergrund her gar nicht in die Heiratsstrategien der Eltern paßte. Das läßt sich am ehesten so erklären, daß hier bei der Zusammenführung der Paare die Organisatoren steuernd eingriffen und darauf achteten, daß diejenigen zusammen ausgerufen wurden, die den unterschiedlichen sozialen Hierarchien der Dorfgemeinschaft entsprechend auch zusammenpaßten.

Hier ist er also, der "Sinn der Sinnlichkeit", wie er sich in der sozialen Logik einer bäuerlichen Gemeinschaft zeigt: Die jungen Burschen und Mädchen des Dorfes, die sich in einer spielerischen Art zu Probe-Ehen zusammentaten, bei denen es auch ruhig des Nachts heiß hergehen durfte, folgten damit einem Ritual, dessen Sinn darin bestand, die Jugend des Dorfes mit einander zu verkuppeln, damit nicht durch Einheiraten eines Mädchens in ein Nachbardorf ein Teil des ackerbaren Bodens als Mitgift der Dorfgemeinschaft als Ganzer entzogen wurde. Das Resultat war die Aufrechterhaltung des für das Überleben der Dorfgemeinschaft notwendigen Systems der Endogamie. Die Anbahnung vorehelicher sexueller Beziehungen war damit auf den Dörfern nicht in die Beliebigkeit der handelnden Individuen gestellt. Der Sinn dieser sinnlichen Erfahrungen war vielmehr der Ausdruck ökonomischer Zwänge einer Gesellschaft, die stets am Rande der Subsistenzwirtschaft lebte.

Eine Frage muß in diesem Zusammenhang leider unbeantwortet bleiben. Es ist die Frage nach der Haltung, welche die jungen Mädchen zu dem ganzen Geschehen einnahmen. Erlebten sie die Leimloch-Nächte als etwas, in dessen Geschehen sie lustvoll eingebunden waren, oder erduldeten sie die besitzergreifende Brauchausübung ihrer männlichen Altersgenossen als notwendiges Übel? Die mir bekannten Quellen geben darauf keine Antwort. Ich persönlich glaube, daß ein Brauch nur dann jahrhundertelang durchgehalten werden kann, wenn er auf einem allgemeinen Konsens beruht, der auch die weibliche Dorfjugend umfaßt. Aber ohne eindeutigen Quellenbefund wird man hier auch in Zukunft höchstens auf der Ebene von Einzelschicksalen Aussagen machen können.

Die Brauchform des Mailehens und die Verbote der Behörden gegen das Schlutgehen lassen sich seit Beginn der Frühen Neuzeit verfolgen. Wie schon erwähnt, waren die obrigkeitlichen Dekrete ohne Auswirkungen. Aber gerade im Hinblick auf das 18. Jahrhundert als Zeit des Umbruchs machen wir eine interessante Entdeckung: Anders als in vielen anderen umstrittenen Bereichen des ländlichen Brauchtums (Tauffeiern, Karneval, Totenwachen) tritt beim Mailehen gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine deutliche Wandlung ein: Der Brauch wird sozusagen entsexualisiert – und zwar feiwillig! Es zeigt sich nämlich, daß die Junggesellen, die sich erfolgreich zwei Jahrhunderte lang gegen obrigkeitliche Unterdrückungsversuche beim Schlutgehen gewehrt haben, nun ohne obrigkeitliche Einflußnahme ihre Gewohnheiten aufgeben.

Schon Mitte des Jahrhunderts hatten die Junggesellen in Plittersdorf bei Godesberg sich zu einer festen Gemeinschaft zusammengeschlossen, die sich Statuten gab. Darin heißt es klipp und klar: "Es wird gebeten im Verbote hier bei den Knechten und Junggesellen, daß keiner sich wird finden lassen bei den Jungfrauen, auch daß er sie in ungebührlicher Weise angreifen täte." Und ein gutes Beispiel für die allgemeine Haltung der Junggesellenvereine gegen Ende des Jahrhunderts ist die Absage der Impekovener Junggesellenstatuten von 1793 an das Schlutgehen:

 

Der „Sinn der Sinnlichkeit“ als Strategiezur Selbsterhaltung der dörflichen Gemeinschaften hatte sich durch diese Entwicklung erledigt. Und damit auch die Frage nach der kollektiven Instrumentalisierung von Sexualität in der Frühen Neuzeit. Ob die damit anbrechende Epoche individualisierter Sexualität nun eher ein Gewinn an Lust oder Last geworden ist, das vermag der Historiker nicht mehr zu entscheiden.

 

(c) by Thomas Becker 2005

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